1. These: Die Großen sind müde
Wissen Sie, wer als Titelverteidiger in die am Abend beginnende Europameisterschaft geht? Zugegeben, das war nicht schwer. Die Tränen von Cristiano Ronaldo, darauf konnte man kommen. Aber erinnern Sie sich auch, wie es Portugal 2016 zum Titel brachte? Kein einziger Sieg gelang damals in der Gruppenphase. Mit drei Remis kamen das Team als einer der besten Gruppendritten ins Achtelfinale. Das Beispiel macht deutlich, worum es bei der EM seit der Teilnehmer-Aufstockung auf 24 Teams geht: Nicht zu verlieren kann eine Mannschaft sehr weit bringen.
Nicht verlieren – das können bei dieser EM selbst die Außenseiter. Fast alle Teams sind in der Defensive gut organisiert, viele spielen mit einer Fünferkette in der Abwehr. Toreschießen wird da kompliziert.
Hinzu kommt ein möglicher Nachteil für die Topnationen: Die Folgen der Coronapandemie treffen sie härter. In die vergangene Saison waren ihre Spieler mit einer verkürzten Sommerpause gestartet. Der Spielplan war eng getaktet. Viele Nationalspieler, gerade die, deren Klubmannschaften es im Europacup weit brachten, werden müde sein.
Das heißt nicht, dass Frankreich in der Vorrunde scheitert und Nordmazedonien Europameister wird. Aber wir dürfen uns auf Überraschungen gefasst machen. Partien, die enger verlaufen als gedacht. Einen Außenseiter, der es bis ins Halbfinale schafft; das unerwartete Scheitern einer großen Fußballnation. Es könnte eine EM der Fußballzwerge werden.
2. These: Für die Türkei ist das Halbfinale drin
Stichwort überraschender Außenseiter: Was Wales 2016 vollbracht hat, den sensationellen Marsch bis ins Halbfinale, könnte diesmal der Türkei gelingen. Warum? Nun, man betrachte sich die jüngsten Ergebnisse der Mannschaft von Trainer-Veteran Şenol Güneş: In der Qualifikation gewann sie Zuhause 2:0 gegen Frankreich (und schaffte im Rückspiel ein Unentschieden), im März bezwang sie die Niederlande 4:2.
Die Türkei hat schon bewiesen, dass sie die Großen ärgern kann. Noch dazu kommen Kapitän und Torjäger Burak Yilmaz (OSC Lille), Spielmacher und Freistoß-Maestro Hakan Çalhanoğlu (AC Mailand) oder der Alleskönner in der Innenverteidigung, Çağlar Söyüncü (Leicester City), nach starken Saisons im Verein mit viel Selbstvertrauen zur EM.
Das sollte reichen, um in der Wundertütengruppe A mit Italien, Wales und der Schweiz unter die Top zwei zu kommen. Gelingt der Türkei das, wartet ein verhältnismäßig einfacher Weg in der K.o.-Phase: Auf die beiden besten Mannschaften der »Todesgruppe« F mit Portugal, Frankreich, Deutschland und Ungarn könnte man so nicht vor dem Semifinale treffen. Und auch, wenn gerade die türkische Defensive noch etwas wankelmütig daherkommt: Eine solche Überraschung ist dem Team von Güneş, der die Türkei schon bei der WM 2002 auf den dritten Platz führte, zuzutrauen. Cedric Voigt
3. These: Englands Bellingham hat das Zeug zum Überraschungsspieler
Am 29. Juni wird Jude Bellingham volljährig, es ist der Tag seines 18. Geburtstags. Wer den jungen Engländer schon mal spielen gesehen hat, kann das kaum glauben. Bellingham wirkt auf dem Platz viel älter. Er mag in der abgelaufenen Spielzeit beim BVB oft der jüngste Profi auf dem Feld gewesen sein, gespielt hat er wie ein alter Hase. Im zentralen Mittelfeld ist er Taktgeber, Bellingham kommt meist ohne Fehler aus und lässt sich auch nicht von Gegner oder Wettbewerb beeindrucken. In der Champions League gegen Manchester City war er es, der den BVB lange Zeit im Spiel hielt, hinterher war sogar der gegnerische Trainer Pep Guardiola schwer beeindruckt.
Das Staunen wird auch bei der EM anhalten. Der 29. Juni ist nicht nur Bellinghams Geburtstag, es ist auch der Achtelfinal-Termin der Engländer, sollten sie ihre Gruppe gegen Kroatien, Tschechien und Schottland gewinnen.
Ganz sicher ist es nicht, dass Bellingham zur Startelf der Engländer gehört, aber die Chancen stehen gut. Im wichtigen Test gegen Österreich spielte er volle 90 Minuten. Nationaltrainer Gareth Southgate scheint ihm die Rolle im Zentrum des englischen Spiels anzuvertrauen, und dass er das beruhigt tun kann, hat Bellingham beim BVB bewiesen. Er bringt alles mit, um der überraschende und überragende Spieler dieses Turniers zu werden. Jan Göbel
4. These: Das echte EM-Feeling wird kommen
Eine nicht repräsentative Umfrage im Freundeskreis hat ergeben: Niemand freut sich so wirklich auf die Europameisterschaft. Manche halten es für keine gute Idee, ein Turnier in mehreren Ländern stattfinden zu lassen. Andere wissen nicht, wer überhaupt mitspielt. Rúben Dias von Deutschland-Gegner Portugal, der Premier-League-Spieler der Saison? Nie gehört. Soweit die Ausgangslage, so gering Vorfreude. Doch die Stimmung wird sich bald aufhellen.
Es ist sonniger, wärmer geworden, der Impffortschritt macht sich bemerkbar und die Inzidenzen sinken europaweit. Es zieht die Leute raus. Die Restaurants sind voll. Und wer dort in den kommenden Wochen sitzt, wird mit der EM in Berührung kommen. Es werden Fernseher auf den Terrassen stehen. Und dann: echtes EM-Feeling. Überraschende Wendungen im Spiel, ein Underdog, der auftrumpft, gemeinsamer Jubel, während der 90 Minuten hat der Fußball noch immer das Potenzial eines Lagerfeuers.
Davor und hinterher mag der Fußball schmutzig sein, dominiert von Funktionären, die weniger das Spiel lieben, sondern seine wirtschaftliche Kraft. Doch die 90 Minuten selbst, plus Verlängerung und Elfmeterschießen – die auch wieder von Fangesängen, von echten Fangesängen im Stadion begleitet werden –, dieser Nervenkitzel lenkt von allem ab, was so nervt im Alltag. Ein bisschen Normalität kehrt zurück, nach der sich viele Menschen sehnen, und die viele brauchen. Es wird eine stimmungsvolle Europameisterschaft. Jan Göbel
5. These: Auf den EM-Plätzen herrscht Chaos – und das ist wunderbar
Es gibt Zustände, die wünscht man sich nicht im eigenen Leben, aber wenn man sie anderswo betrachten kann, ist das faszinierend und aus der Ferne manchmal beglückend.
Tanzen, zum Beispiel. Oder ein Drogenrausch. Oder Chaos.
Deswegen freue ich mich auf die EM, bei solchen Turnieren geht es auf dem Platz chaotisch zu. Natürlich nicht vergleichbar mit einem Kreisklasse-Kick, aber im Vergleich mit dem Fußball, den man sonst so anschaut – Bundesliga, Premier League, Champions League – sind Spiele bei Welt- und Europameisterschaften oft viel wilder, unkontrollierter, eben: chaotischer.
Bei einer EM gibt es keine schlechten Fußballer, es gibt sogar sehr viele sehr gute Fußballer. Aber die trainieren eben sonst jeden Tag zum Beispiel bei Pep Guardiola und atmen dessen Spielidee. Und dann kommen sie zu ihrer Nationalmannschaft und kicken mit Teamkollegen zusammen, die sonst zum Beispiel von Jürgen Klopp gecoacht werden. Moderne Profis sind es gewohnt, sich immer wieder auf neue Systeme und Varianten einzustellen, aber diese ein, zwei Monate rund um ein Turnier sind selbst für sie eine Extremsituation. Wie, wenn eine Truppe Sambatänzer und ein paar Rumba-Experten plötzlich zusammen einen Tango hinlegen sollen.
Und so schön es sein kann, eine Vereinsmannschaft anzuschauen, die jeden Spielzug verinnerlicht, auf jeden Winkelzug des Gegners eine Antwort hat, so spannend ist es, diese ganzen Weltklassespieler beim Improvisieren zu beobachten, bei Einzelleistungen, beim Fehler machen. Wenn das auf höchstem Niveau passiert, kann so eine EM ein richtiger Rausch werden.