Die verpasste Großchance: Roger Federer nicht dabei. Novak Djokovic angeschlagen. Rafael Nadal auch. Mit Aslan Karatsev ein vermeintlich schlagbarer Gegner im Halbfinale. Für Alexander Zverev war auf seinem Lieblingsbelag alles bereitet für den erneuten Einzug in ein Grand-Slam-Finale, vielleicht sogar für den ersten Titel. Im Viertelfinale gegen Djoković zeigte Zverev auch eine exzellente Leistung, er lag in drei Sätzen jeweils mit einem Break vor. Doch am Ende hielt eine erstaunliche Serie: Zverev hat bei einem Grand-Slam-Turnier noch nie gegen einen Spieler aus den Top Ten der Weltrangliste gewonnen.
Das Ergebnis: Djoković gewinnt nach dreieinhalb Stunden 6:7, 6:2, 6:4 und 7:6 und trifft nun im Halbfinale am Donnerstag auf Karatsev.
Bauchmuskel-Psychologie: Es war das Thema vor diesem Viertelfinale. Wie sehr beeinträchtigt Djoković seine Bauchmuskelverletzung? Was macht das gedanklich mit Zverev? Und wie beeinträchtigt den Deutschen seine eigene Blessur an gleicher Stelle? Mentaltrainer Steffen Kirchner hatte dem SPIEGEL im Vorfeld gesagt, für Zverev sei es wichtig, bei sich zu bleiben und nicht zu viel über die Folgen beim Gegner nachzudenken. Und: »Es geht im Spitzensport darum, möglichst schnell und möglichst dauerhaft in den Kopf des Gegners zu kommen, damit er über mich nachdenkt und nicht so sehr über sich.«
Erster Satz: Das schien Djoković zu Beginn des Matches nicht gelungen zu sein. Der Serbe war darum bemüht, entgegen seiner eigentlich seit Jahren bewährten Taktik zu spielen. Schnelle Ballwechsel, keine langen Schlagabtäusche, hohes Risiko. Die Idee ging nicht auf, Zverev schaffte ein frühes Break und schlug bei 5:4 zum Satzgewinn auf. Da hatte Djoković seine Spielidee bereits umgestellt, er schafft das Re-Break und es ging in den Tiebreak. Dort behielt dann doch Zverev die Oberhand. Djoković zog sich im Anschluss sein Pflaster von den lädierten Bauchmuskeln. Willkommen im Kopf des Gegners.
Tennis-Philosoph Becker: Wer das Match auf Eurosport verfolgt hat, wurde in der gewohnten Art und Weise von Kommentator Matthias Stach und Experte Boris Becker durch das Hin und Her geführt. Viele Anekdoten, gute Analysen, eine etwas zu unkritische Betrachtung der beiden Spieler, die in den vergangenen Wochen und Monaten die Schlagzeilen – auch in negativer Hinsicht – geprägt hatten. Als Zverev einen Überkopfball knapp ins Eck setzte, sagte Becker: »Es gibt keine Bilder im Scoreboard, nur Punkte.«
So ist Tennis: Djoković hatte sich im ersten Satz zurückgekämpft. Die Ballwechsel wurden länger. In früheren Jahren hätte Zverev so einen Tiebreak vermutlich verloren. Nachteil Djoković zu Beginn des zweiten Satzes? Nein, im Spitzentennis muss eine solche Entwicklung nichts bedeuten. Plötzlich war der Weltranglistenerste der klar bessere Spieler, zog auf 4:0 davon und glich nach Sätzen aus.
Der Court muss sauber sein: Zu Beginn des dritten Satzes lief es für Zverev wieder besser. Der 23-Jährige kam vermehrt zu schnellen Punkten, die Ballwechsel wurden wieder kürzer. Nach einem frühen Break führte Zverev 3:1. Und Djoković? War ungeduldig, genervt. Als er vor dem fünften Spiel wegen neuer Bälle und eines Schlägerwechsels von Zverev etwas länger warten musste, setzte er sich an den Rand des Platzes. Kurz darauf brach es aus Djoković heraus: Bei Einstand zertrümmerte er seinen Schläger – und ein Ballmädchen musste mit dem Handfeger sauber machen.
Zverev und der Aufschlag: Die nächste Wende war nicht weit entfernt. Zverev führte 4:2. Bis dahin hatte er keinen Doppelfehler produziert. Insgesamt servierte Zverev 21 Asse, 64 Prozent seiner ersten Aufschläge kamen ins Feld. Aber Mitte des dritten Satzes verließ ihn seine Superkraft, mit zwei Doppelfehlern gab er seinen Aufschlag ab und Djoković gewann den Satz 6:4.
Wie zwei angeschlagene Boxer: Ältere Tennisbeobachter erinnern sich an die French Open 1989. Ein entkräfteter Chang verunsicherte im Achtelfinale den erfahrenen Lendl so sehr, dass der Außenseiter in fünf Sätzen gewann. Dieses Match wird bis heute herangezogen, wenn es um die Herangehensweise gegen angeschlagene Gegner geht. In der Rod Laver Arena waren nun jedoch beide Spieler körperlich nicht mehr auf der Höhe – was das Niveau absurderweise erneut ansteigen ließ. Es gab kaum noch freie Punkte, Zverev und Djoković quälten sich in langen Ballwechseln und zeigten ihr gesamtes Schlagrepertoire. Der Deutsche lag erneut ein Break vor, bei 6:5 vergab er einen Satzball. Wer weiß, was in einem fünften Satz gefolgt wäre?
Djoković und der Aufschlag: Der 33-Jährige ist an normalen Tagen unabhängiger von seinem Service als es Zverev ist. An diesem Tag war Djoković der bessere Aufschläger, er schlug 23 Asse und brachte 73 Prozent seiner ersten Aufschläge ins Feld. »Ich musste mein Spiel umstellen«, sagte Djoković nach dem Match bei Eurosport. »Die Verletzung hat mir letztlich sogar etwas geholfen, der Druck war nicht mehr so groß.« Dieses Viertelfinale wurde im Kopf und eben doch nicht im Bauch entschieden.
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