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Tödlich, tödlicher, doch nicht am tödlichsten?

Müssen sich die Corona-Forscher korrigieren? Ihre Warnsirenen drosseln? Die britische Variante B.1.1.7, so ist plötzlich überall zu lesen, sei anders als behauptet doch nicht tödlicher als das ursprüngliche Virus. Virologen, Epidemiologen, ja auch die Bundeskanzlerin mit ihrer Rede von „einer neuen Pandemie“, werden in sozialen Netzwerken attackiert. Und mit was? Mit zwei vergleichsweise speziellen, kleinen und schwer verallgemeinerbaren Realwelt-Studien britischer Forscher. Eine Revolution? Wissenschaftlich wohl eher nicht, und das lässt sich in den Studien selbst schön zeigen.

Kurz ein Blick zurück: Britische Virologen und Epidemiologen waren sich nach dem Auftauchen der Coronavirus-Variante B.1.1.7 Ende vergangenen Jahres und nach Analyse der Ausbreitungsdaten in Südengland und London schnell einig, dass es sich bei dem Virusstamm mit seinen mehr als einem Dutzend unterschiedlicher Mutationen im Erbgut um einen besonderen Erreger handelt. Entstanden war diese Variante mutmaßlich im September. Rasch verdrängte sie die ursprüngliche „Wildtype“-Virusvariante. Epidemiologisch deutete bald alles darauf hin, dass sich B.1.1.7 schneller vermehrt, zumindest aber viel leichter übertragen lässt. Ein evolutionärer Vorteil für das Virus, das für das Infektionsgeschehen wichtig ist, weil es die Pandemie beschleunigt. Grundsätzlich neu war das nicht.

Auch eine andere Variante, D614G, war schon mit einer höheren Übertragbarkeit aufgefallen. Allerdings ließ die Vielzahl, in kurzer Zeit etablierter Mutationen erahnen, dass B.1.1.7 noch ansteckender sein könnte und sich auch rasch gegen die bis dahin kursierenden Ursprungsviren durchsetzen würde. Ende Januar kamen dann die ersten Berichte heraus über den britischen Gesundheitsdienst und die „Nervtag“-Gruppe der Regierung in London, die zeigen, dass es mit der Ausbreitung in Südengland auch zu vermehrten Krankenhauseinweisungen und schwereren Verläufen insbesondere bei jüngeren Menschen gekommen war. In den Folgewochen kümmerten sich mehrere hochkarätige Forschergruppen darum, im Labor ebenso wie in den Kliniken, Kommunen und mit Hilfe epidemiologischer Modelle zu klären, ob die Mutationen das B.1.1.7-Virus wirklich kränker macht und besonders tödlich ist. Hunderttausende Covid-19-Patienten wurden einbezogen. Zuletzt, als sich die Variante in Europa rasend schnell ausbreitete und bald auch in Deutschland dominierte, gab es kaum noch Zweifel: Letalität und das Risiko schwerer Covid-Erkrankungen gelten als deutlich erhöht – verglichen mit dem „alten“ Virustyp um gut 60 Prozent höher.

Eine Studie, zwei völlig verschiedene Interpretation

Diese Aussage sei nun infrage gestellt, hieß es gestern – in einigen Quellen durchaus nicht ohne einen Anflug von Genugtuung, dass die Wissenschaftler sich wieder getäuscht hätten. Nicholas Davies allerdings, ein B.1.1.7-Spezialist der London School of Hygiene & Tropical Medicine, rückte die Zahlen schnell zu Recht. Er hatte zusammen mit Kollegen vor drei Wochen eine Veröffentlichung zur erhöhten Sterblichkeit nach B.1.1.7-Infektionen in „Nature“  veröffentlicht. „Komplett in Übereinstimmung mit dem, was bisher gemessen wurde“, kommentierte Davies das Ergebnis der in „Lancet Infectious Diseases“ veröffentlichten klinischen Genomstudie, die an diesem Dienstag veröffentlicht wurde. Komplett anders allerdings auch, als die neue Untersuchung von Dan Frampton vom University College London in der Öffentlichkeit interpretiert wird. Wie das möglich ist?

Weil ganz offensichtlich schnell überzogene Schlüsse gezogen wurden. Ort der Untersuchung waren zwei Kliniken im Nordosten Londons. Von den Patienten, die dort wegen einer Covid-Erkrankung zwischen dem 9. November und 20. Dezember – vor dem britischen Impfstart – vorstellig oder eingewiesen wurden, hat man Proben genommen und 341 für detaillierte Genomsequenzierungen einbezogen. Fast zweihundert von ihnen hatten sich, wie sich herausstellte, mit B.1.1.7 angesteckt, der Rest noch mit der „alten“ Variante. Bei den Patienten wurde nachgesehen, wie es ihnen im Verlauf der Erkrankung geht. Spätestens zwei Wochen nach dem PCR-Test oder den ersten Symptomen war der Covid-19-Schweregrad ermittelt worden, nach 28 Tagen wurde klinisch Bilanz gezogen. Fazit: Wir erkennen keinen Zusammenhang zwischen B.1.1.7 und der Schwere der Erkrankung.“ 16 Prozent der B.1.1.7-Patienten starben im Verlauf der 28 Tage, aber auch 17 Prozent bei den anderen Covid-19-Patienten. Auch was den Schweregrad angeht, der Zahl der künstlich beatmeten Patienten waren kaum Abweichungen zu erkennen. Allerdings: Die Altersstaffelung gab erste Hinweise, dass es dennoch Unterschiede geben könnte. Unter den mit B.1.1.7 infizierten Menschen waren mehr jüngere Patienten unter 60 Jahren, von ihnen starben auch vergleichsweise mehr als in der mit dem Ursprungsvirus infizierten Gruppe – und das, obwohl die B.1.1.7-Infizierten im Mittel klar weniger Vorerkrankungen hatten. Bei den B.1.1.7-Patienten wurde im Schnitt auch früher mit der Beatmung begonnen. Und: Die Viruslast, das heißt die Virusmenge in den Proben, war bei den Jüngeren größer. Die Wissenschaftler werten das zwar eher als Hinweis für die leichtere Übertragbarkeit der Variante. Allerdings kann eine stärkere Virusbelastung in den oberen Atemwegen durchaus auch einen schweren Verlauf bedeuten.

Einige Fragen bleiben offen

Statistisch sind diese Unterschiede längst nicht so deutlich wie in den Studien davor, die auf eine klar erhöhte Tödlichkeit der Variante hinwiesen. Aber dieser Effekt könnte auch dem Zeitpunkt der Untersuchung geschuldet sein: Im Laufe des Dezembers waren die Kliniken noch längst nicht so überlastet, das Pflegepersonal und die Ärzte in den beiden Kliniken konnten sich um ihre Patienten intensiver kümmern. Vergleiche mit späteren Studien sind da schwierig. Wie groß solche sozialen Einflüsse sind, lässt sich schwer beziffern. Sie könnten dafür sprechen, dass die höhere Tödlichkeit von B.1.1.7 vor allem auch ein indirekter Effekt ist: Weil sich das Virus nach der Ansteckung schneller vermehrt und damit die Ausbreitung des Virus im Körper und auch in der Bevölkerung beschleunigt wird, kommen die Kliniken und Ärzte schneller an ihre Grenzen, die Behandlung der Patienten wird schwieriger, die Beatmung und medikamentöse Therapie beginnt vielleicht öfter zu spät. Eine Spekulation, an der sich die Autoren der Studie nicht beteiligen. Was sie allerdings in der Publikation klar eingestehen: Ob es Unterschiede in der medikamentösen Behandlung gegeben hat, ob die etwas jüngeren und früher mit Sauerstoff versorgten Patienten auch früher Steroide, antivirale Medikamente oder monoklonale Antikörper gegen Sars-CoV-2 erhalten hatten, wurde in der Studie nicht erfasst. Einige Fragen bleiben also offen, die sich mit dieser  vergleichsweise kleinen und speziellen Untersuchung kaum beantworten lassen.

Vielmehr lassen sich, wie Davies inzwischen gezeigt hat, die moderat statistischen Werte in die Bandbreite einordnen, mit denen die gesteigerte Gefährlichkeit von B.1.1.7 bisher dokumentiert wurde. Und die zweite Studie, von der jetzt die Rede ist? Zu der in „Lancet Public Health“ veröffentlichten Untersuchung von Wissenschaftlern ließe sich viel sagen. Sie ist eine federführend vom King’s College in London vorgenommene Untersuchung, in der ein paar zehntausend Nutzer der britischen Corona-App zwischen Ende September und Ende Dezember 2020 – im Zeitraum der ersten schnellen B.1.1.7-Aubsreitung – Auskunft über ihre Symptome geben sollten. App-Studien wie diese, in denen Infizierte oder Covid-19-Patienten freiwillig Selbstauskünfte übermitteln, sind für viele Zwecke sinnvoll, allerdings kaum, um die Gefährlichkeit von Varianten vergleichen zu können. Es gibt viele Aussteiger, auch unvollständige Angaben, und gerade bei längeren, wochenlangen Verläufen – mit dem Tod möglicherweise am Ende – bleiben große Lücken. So liefert diese „ökologische“ Studie von Mark Graham und seinen Kollegen  in einem Untersuchungsgebiet mit einem neuen Ausbruchsgeschehen, in der keinerlei genetische Information über die Zusammensetzung der unterschiedlichen Varianten geliefert werden, zwar Indizien über Symptomhäufigkeiten bei Covid-19-Kranken, aber sie lässt auch kaum weitergehende Schlüsse zu. In der Publikation heißt es denn auch: „Es gibt Evidenzen, dass Infektionen mit B.1.1.7 mit einem erhöhten Sterberisiko verbunden sind, unsere eigenen Daten erlauben es jedoch nicht, dies einzuschätzen.“

Nach der Lektüre der beiden Lancet-Studien lässt sich jedenfalls kaum behaupten, mit den neuen Sars-CoV-2-Varianten hätte sich kein zusätzliches Problem für die Pandemiebekämpfung ergeben. Anders herum: Die beiden Forschungsgruppen betonen in ihren Studien vielmehr explizit, dass die genetische Variation des Erregers mit den teils problematischen Kombinationen von Mutationen die Prävention und Überwachung umso dringlicher machen. Die Genom-Gruppe um Frampton spricht gar von einer bevorstehenden „Ära neu auftauchender Varianten“.

QUELLE

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