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Die salzfreie Zeit im Polarmeer

Wie alle Weltmeere, so besteht auch der Arktische Ozean aus Salzwasser. Der Salzgehalt des Nordpolarmeeres schwankt geographisch zwischen drei und dreieinhalb Prozent. Es ist damit im Durchschnitt etwa genauso salzig wie der Atlantik oder der Pazifik. Doch das war offenbar nicht immer der Fall. Nach Meinung einer deutschen Forschergruppe sei es durchaus möglich, dass der gesamte Arktische Ozean in den vergangenen 150.000 Jahren mindestens zweimal ein riesiger Süßwassersee war, den damals jeweils ein bis zu 900 Meter dicker Eispanzer bedeckte. Selbst die arktischen Nebenmeere wie die Grönlandsee und das Europäische Nordmeer enthielten damals kein salziges, sondern nur frisches Wasser.

Zu dieser verblüffenden Erkenntnis sind die Forscher vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven und vom Meeresforschungszentrum Marum in Bremen gekommen, als sie Sedimentproben untersuchten, die an zehn Stellen aus dem arktischen Meeresboden erbohrt worden waren. Die Bohrkerne stammten von mehrere hunderttausend Jahre altem Gestein in der Nähe des Nordpols, des Europäischen Nordmeers und im östlichen Teil des Arktischen Ozeans. Walter Geibert und seine Kollegen analysierten die Konzentration des radioaktiven Isotops Thorium-230 in den vielen Schichten der Bohrkerne.

Das Thorium-230 entsteht beim Zerfall von natürlichem Uran, das in winzigen Mengen in den Salzpartikeln des Meerwassers enthalten ist. Im Meersalz gibt es Uran, weil die Partikeln ursprünglich von den Gesteinen auf den Kontinenten stammen und dort von Flüssen erodiert und ins Meer geschwemmt wurden. Wenn das Uran in den Salzpartikeln zerfällt, sinken die entstehenden Thoriumisotope auf den Meeresgrund und lagern sich im Sediment ab. Dabei hängt die Konzentration der Isotope vom Salzgehalt des Meerwassers ab. Salziges Wasser erzeugt mehr Thorium als Brackwasser. Deshalb nutzen Meeresforscher die Analyse der Thoriumkonzentration in Meeressedimenten schon seit langem, um den Salzgehalt des Wassers in früheren Zeiten der Erdgeschichte zu rekonstruieren.

Kein Salz in der Eiszeit

Wie die Forscher um Geibert in der Zeitschrift „Nature“ schreiben, fanden sie heraus, dass es in allen zehn von ihnen untersuchten Bohrkernen mehrere deutlich erkennbare Schichten gab, die überhaupt kein Thorium enthielten. Als man das jeweilige Alter dieser Schichten bestimmte, war die Überraschung groß. In allen Bohrkernen fielen die thoriumfreien Schichten nämlich in zwei enge Altersgruppen bei etwa 140.000 und 66.000 Jahren. Diese Entdeckung ließ nur einen Schluss zu: Zu diesen Zeiten kann es im Arktischen Ozean kein Salz gegeben haben. Das Nordpolarmeer muss also völlig aus Süßwasser bestanden haben.

Eine mögliche Erklärung für ihren Befund fanden die Forscher beim Blick in die Klimageschichte der Erde. Die thoriumfreien Zeiten im Meerwasser fielen exakt in zwei großräumige und lange dauernde Vereisungen der Nordhalbkugel, nämlich in die Weichsel- und die Saale-Eiszeiten. Weil damals sehr viel Wasser im Eis gebunden war, lag der Meeresspiegel um weit mehr als hundert Meter unter dem heutigen Niveau. Die Beringstraße war damals trockengefallen, womit die hydrologische Verbindung zwischen dem Pazifik und dem Arktischen Ozean unterbrochen war.

Auch die Koppelung zwischen dem Nordpolarmeer und dem Atlantik war gekappt, denn der dicke Eispanzer, der zu den Eiszeiten den Ozean über dem Nordpol bedeckte, reichte bis an die Spitzen jener untermeerischen Schwellen heran, welche die beiden Weltmeere voneinander trennen. Deshalb konnte weder Salzwasser von Pazifik noch vom Atlantik nach Norden fließen. Vielmehr reicherte sich im Laufe der Jahrtausende immer mehr Süßwasser im Arktischen Ozean an, bis dessen Salzanteil, und damit die Entstehung von Thorium, verschwindend gering wurde. Das riesige Ozeanbecken rund um den Nordpol wurde damit zu einem enorm großen Süßwassersee.

Als das Eis dann langsam schmolz, flossen plötzlich große Mengen an Süßwasser in die beiden großen Ozeane. Das Frischwasser veränderte die thermohalinen Zirkulationen sowohl im Atlantik als auch im Pazifik und führte damit zu drastischen Klimaschwankungen. Nach Meinung der Bremer Forscher ist es durchaus möglich, dass auch die Klimakapriolen zum Ende der letzten Eiszeit vor etwa 11.000 Jahren von solchen dramatischen Süßwasserschüben verursacht wurden. Damals stieg die Temperatur über Grönland mehrere Male innerhalb weniger Jahre um acht bis zehn Grad an und kehrte erst Hunderte Jahre später zum normalen kalten Eiszeitniveau zurück.

QUELLE

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