Kultur

Holocaust-Überlebende Esther Bejarano ist tot

Was für eine Frau! Kaum 1,50 Meter groß, aber eine Energie, die jeden Mann in den Schatten stellte. Zum Beispiel ihren Sohn Joram, der Esther Bejarano zu all ihren Auftritten begleitete. Sie stützte sich unterwegs zwar leicht gebeugt auf seinen Unterarm, doch wer die Gangart vorgab, war stets unverkennbar: Esther natürlich. Sie wusste stets, was sie wollte.

Noch mit über 90 Jahren stand Esther Bejarano auf der Bühne – und sang! Gemeinsam mit der Band Microphone Mafia. Die Kölner Männer rappten, Sohn Joram spielte den Bass und Esther: trällerte selbstverständlich den Refrain.

Zuletzt hatte die Stimme vielleicht nicht mehr ganz die Tragweite wie die der einstigen Sängerin, die weltweit auf Tournee gegangen war, das wusste Esther Bejarano und akzeptierte, dass die Microphone Mafia den Song immer auch als Aufnahme über Lautsprecher mitspielte. Aber darum ging es ohnehin nicht bei ihren Auftritten. Auf die Botschaft kam es an: Nie wieder Rassismus, nie wieder Antisemitismus, nie wieder menschenverachtender Faschismus! Und diese brachte keine so leidenschaftlich und voller Energie hervor wie Esther Bejarano.

Eine Jugend in Konzentrationslagern

1924 als Tochter des Oberkantors der jüdischen Gemeinde in Saarlouis geboren, musste Esther – damals noch mit Nachnamen Loewy – als Kind erleben, wie die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen und ihr ganzes Leben veränderten.

“Von 16 Jahren an bis 20, eigentlich die schönste Jugendzeit. Was haben wir für eine Jugend gehabt? Gar keine. Eine schlimme Jugend”, erzählte sie kurz vor ihrem 90. Geburtstag noch der DW. Diesen Teil des Lebens hätten die Nazis ihr geraubt. Schikane in der Schule, Trennung von den Eltern, drei Konzentrationslager und ein Todesmarsch – all das musste Esther Bejarano erleben.

In Auschwitz, so schrieb sie auch in ihren “Erinnerungen”, wurden sie und die anderen Menschen, die erschöpft nach tagelanger Fahrt aus dem Viehwaggon stolperten, von SS-Leuten mit den Worten begrüßt: “So, ihr Saujuden, jetzt werden wir euch mal zeigen, was arbeiten heißt.”

Sie wurde in eine Arbeitskompanie eingeteilt, musste schwere Steine schleppen. Doch dann hörte sie ein Gerücht: Die SS suche Mädchen für ein Lager-Orchester. Und der Jugendlichen gelingt es, aufgenommen zu werden: als Akkordeonistin. Dabei hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nie ein Akkordeon in der Hand gehalten. Allein die Fingerfertigkeit des Klavierspielens im Elternhaus, ihre Musikalität und der unbedingte Wille zu überleben, ließen das Unmögliche geschehen.

Im Mädchenorchester von Auschwitz

Und es ging in dem Orchester ums nackte Überleben: Die 40 jungen Frauen mussten spielen, wenn die Häftlinge aus dem Lager zum Arbeitsdienst marschierten und wenn neue Transporte mit Zügen aus ganz Europa eintrafen. “Du wusstest, die gehen jetzt ins Gas und du musst da stehen und musst spielen”, erzählte Esther Bejarano 2014 der DW. Dies sei das schlimmste gewesen, dass sie in Auschwitz erlebt habe.

Trotz dieser grausamen Erfahrung, wie Musik von den Nazis missbraucht werden konnte, blieb für Esther Bejarano ihr Leben lang die Schönheit der Musik bestehen. Die Schlager und Märsche, die sie in Auschwitz spielen musste, so erzählte sie, hätten doch nichts mit wahrer Musik zu tun. Mozart oder Beethoven habe sie auch schon im Lager den Mithäftlingen vorgesungen und dabei nie an die Gräueltaten der Nazis gedacht. Diese Musik war für sie Sinnbild eines anderen Lebens.

Nach Kriegsende erfüllte sich Esther Bejarano, die zuvor ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück deportiert worden war, endlich ihren Kindheitstraum: Sängerin werden.

In Tel Aviv studierte sie Gesang, ging schon währenddessen in Israel und darüber hinaus auf Tournee, lernte den Vater ihrer Kinder kennen. Ihr Leben nach dem Krieg war ein glückliches. Und doch entschied sie sich aufgrund gesundheitlicher Probleme ihres Mannes, in den 1970er Jahren zurück nach Deutschland zu gehen. Nach Hamburg – bewusst in eine Stadt, zu der sie in ihrer Kindheit keinen Bezug hatte. Anfangs, so erzählte sie der DW, habe sie sich schon bei den Menschen auf der Straße gefragt, was die wohl im Krieg getan hatten. “Wenn ich Menschen gesehen habe, die so ein bisschen älter waren als ich, hab ich immer gedacht, vielleicht sind die die Mörder meiner Eltern, meiner Schwester?” Doch anstatt aufzugeben, entschied sich Esther Bejarano zu kämpfen. Sie wollte dafür sorgen, dass sich nie wieder “eine menschenverachtende Ideologie” wie sie stets sagte, verbreiten könne. Indem sie von ihrem Leben erzählte.

Der Kampf geht weiter

Gemeinsam mit Anita Lasker-Wallfisch gehörte Esther Bejarano lange Zeit zu den letzten Überlebenden des berüchtigten Mädchenorchesters. Als Zeitzeugin und Mitbegründerin des Internationalen Auschwitz-Komitees war sie in Talkshows ebenso gefragt wie in Schulen, wo sie selbst verklemmte Jugendliche mit ihrer Energie von den Stühlen riss und zum Mitsingen brachte.

Bis zuletzt engagierte sich Esther Bejarano gegen Fremdenfeindlichkeit. Und wurde dafür nicht selten von rechter Seite angegriffen. Dies schweigend hinzunehmen, war Esther Bejaranos Sache sicher nicht. 2004 sorgte sie für einen Aufschrei, als sie berichtete, die Polizei habe auf einer Demo gegen Rechts, an der sie teilnahm, Wasserwerfer direkt auf den Wagen gerichtet, auf dem sie sich befand. 2013 machte sie sich für Flüchtlinge stark und bezeichnete Personenkontrollen von Afrikanern in Hamburg als “unmenschlich und inakzeptabel” – wie die gesamte europäische Asylpolitik.

Als im August 2015 ein User auf Facebook in einem Post meinte, auch sie habe doch “Beihilfe zum Massenmord” geleistet und “andere mit einem lachenden Auge in den Tod gehen lassen”, weil sie sich “freiwillig zur Bildung eines Lagerchors” gemeldet habe, reagierte Bejarano prompt – und klagte. Schließlich hatte sie häufig genug schweren Herzens davon berichtet, wie die SS direkt hinter dem Orchester stand und die Mädchen beim Spielen weinten und zitterten. So infam sei sie noch nie beleidigt worden, sagte sie damals dem NDR. Dies verunglimpfe “all diejenigen, die in Auschwitz gewesen sind”. Auch die Prozesse gegen verschiedene Auschwitz-Aufseher verfolgte sie aktiv mit, bezeichnete den Auftritt der Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck in Detmold als “eine Frechheit”. Man müsse sie zur Rechenschaft ziehen.

2017 wurde Esther Bejarano von der DKP als Bundestagskandidatin aufgestellt, zog ihre Kandidatur aber zurück. Im Jahr darauf äußerte sie sich öffentlich zur Antisemitismus-Debatte um die Rapper Kollegah und Farid Bang und ihr Lied “0815”, in dem die Textzeile “Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen” vorkommt. Sie bezeichnete die Zeile als “geschmacklos und verhöhnend”. Ein Angebot, ein Lied mit Farid Bang aufzunehmen, lehnte sie ab. Ebenfalls 2018 nahm sie an der Aufnahme des Musiktheaterstücks “Die Kinder der toten Stadt – Musikdrama gegen das Vergessen” mit einer Sprechrolle teil.

Die Arbeitskammer des Saarlandes lobt seit einigen Jahren den Esther Bejarano Preis aus. Jugendliche, die sich in Form von Videoclips mit Erinnerungsarbeit auseinandersetzen, können sich auf den Preis bewerben. Die Arbeitskammer des Saarlandes will damit Esther Bejarano “für ihren Mut und ihre Courage ehren”.

“Nie wieder Auschwitz” – dieses Bekenntnis war für Esther Bejarano Voraussetzung dafür, wieder in Deutschland leben zu können. Es reichte ihr nicht, dies zu Gedenktagen zu hören, sie selbst sorgte dafür, dass es auch galt. Esther Bejarano ist in der Nacht zum Samstag im Alter von 96 Jahren in ihrer Wahlheimat Hamburg verstorben. Diese kleine Frau voller Energie und Geist wird in Deutschland fehlen.

QUELLE

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