Streikgegner in Kolumbien: Wer steckt unter den weißen T-Shirts?
“Der Diktator ist der Streik”: Unter diesem Titel veröffentlichte die Senatorin der rechtsgerichteten Regierungspartei Demokratisches Zentrum Paloma Valencia Anfang Juni einen polemischen Artikel, der vielfach über Whatsapp geteilt wurde. Sie beschreibt darin, wie undemokratisch die regierungskritischen Demonstrationen in Kolumbien seien. Der Streik, so schreibt sie, wolle Zustände schaffen, wie sie im Nachbarland Venezuela heute schon Realität seien.
Der Titel des Textes bezieht sich auf Kommentare von Demonstrierenden, nach denen Kolumbien keine Demokratie mehr sei, sondern eine Diktatur. Damit zielen sie auf die Fälle von Polizeigewalt, die während der letzten Wochen öffentlich wurden.
Gegenprotest in weiß
Seit Ende April demonstrieren Hunderttausende gegen soziale Ungerechtigkeit, Armut und Korruption. Auslöser war eine Steuerreform, die längst wieder vom Tisch ist. Nun werden immer mehr Menschen laut, die sich mit diesen Protesten nicht identifizieren können. Ihr Markenzeichen: Weiße Hemden und T-Shirts. In zahlreichen Videos ist zu sehen, dass zumindest einige von ihnen nicht davor zurückscheuen, auch zur Waffe zu greifen. Auf den ersten Blick sind die Fronten verhärtet. Reich gegen arm, rechts gegen links. Doch wie die Streikenden sind auch die Protestgegner keine homogene Gruppe.
“Läden abzubrennen und Eigentum zu zerstören, das ist kein friedlicher Protest”, sagt Elías León Marín, Präsident des Verbandes der pensionierten Unteroffiziere der kolumbianischen Luftwaffe (ASURFAC). Der 62-jährige Veteran hat Ende Mai in Bogotá eine Gegendemonstration zu den Streiks mitorganisiert. Unter dem Motto “Marsch des Schweigens” marschierten Tausende mit ihm.
“Wir wollten allen zeigen, dass Protest auch friedlich geht”, sagt León. Er glaube zwar, dass es Polizisten gebe, die Gewalt ausübten, doch “das sind nicht mehr als zwei Prozent der Sicherheitskräfte. Der Großteil der Gewalt ging von den Streikenden aus.”
Alles nur Einzelfälle?
Dass nur einzelne Polizisten für Fehlverhalten verantwortlich seien, ist eine wiederkehrende Argumentation. Dementgegen stehen Zahlen von NGOs wie Temblores, die mittlerweile von mehr als 3500 Fällen von Polizeigewalt allein während der Proteste sprechen. Die Rhetorik der Einzelfälle gibt es allerdings auf beiden Seiten. Auch aus den Reihen des Streikenden heißt es, nur wenige Demonstrierende würden handgreiflich. Doch dagegen stehen Berichte von mehreren hundert verletzten Sicherheitskräften.
Vandalismus und Gewalt sind nur ein Argument, das die Streikgegner anführen. Noch häufiger wendet sich der Widerspruch gegen die Blockaden – besonders die drittgrößte Stadt Cali und das Umland sind davon betroffen. “Wir müssen zwischen den Gegnern des Streiks und den Gegnern der Blockaden klar unterscheiden”, sagt der Politologe Omar Oróstegui. “Während Menschen, die den Streik komplett ablehnen, meist auch die Probleme des Anderen nicht sehen wollen, sympathisieren Menschen, die sich gegen die Blockaden aussprechen, häufig sogar mit dem Streik”.
Kontraproduktive Blockaden
So wie Esteban Piedrahita. Der Präsident der Handelskammer in Cali sagt, er verstehe die Forderungen der Streikenden: “Ungleichheit und Korruption schaffen Aussichtslosigkeit – und die führt logischerweise zu Wut.” Doch wegen der Blockaden macht er sich Sorgen um die wirtschaftlichen Auswirkungen. Einer Umfrage der Kammer zufolge konnten 90 Prozent der Firmen im Departamento Valle del Cauca gar nicht oder nur eingeschränkt operieren. Die Hauptgründe: Schwierige Versorgung mit Rohstoffen, eingeschränkte Mobilität und Unsicherheitsgefühl wegen der Blockaden.
Hielten die Blockaden weiter an, hätte das fatale Folgen für die Unternehmen in der Region, so Piedrahita. Und damit auch für Arbeitnehmer. “Ich verstehe, dass die Blockaden die Menschen aufrütteln sollen. Aber wenn sie permanent durchgehalten werden, schaden sie langfristig allen.”
An einigen Stellen haben Streikende ihre Blockaden mittlerweile aufgehoben. Gleichzeitig hat das nationale Streikkomitee die Dialoge mit der Regierung am Sonntag erneut abgebrochen. Außerdem fühlen sich viele der Streikenden durch das Komitee nicht repräsentiert. Deshalb gibt es lokale Dialoge wie etwa in Cali.
Für manche nicht lokal genug. Jorge Elías González, Manager eines Einkaufzentrums in Dapa, einem Vorort von Cali, hat Dialoge mit den Demonstrierenden organisiert, die die Straße vor seiner Mall blockierten. Aus seiner Sicht ein voller Erfolg: “Die Straße ist jetzt frei und wir arbeiten mit den Jungs des Streiks daran, dass sie unter anderem mittels einer lokalen Jobbörse hier im Ort bessere Chancen haben.”
All dies, so González, sei aber nur möglich gewesen, weil die Kriminalpolizei Sijin zuvor fünf der Blockierer festgenommen habe. González findet das richtig. Die Leute in Dapa hätten keinen Zugang mehr zu Supermärkten, Krankenhäusern oder ihrem Arbeitsplatz gehabt. Er kann verstehen, wenn die Bewohner da aus Verzweiflung zur Waffe griffen. Allerdings, erklärt er, habe es in Dapa auch nur Warnschüsse in die Luft gegeben. “Vier Jungs mit Schlagstöcken können doch nicht Hunderten Anwohnern sagen, was sie zu tun haben.”
Instrumentalisierte Proteste?
“Viele Kolumbianer sind grundsätzlich damit einverstanden, dass es mehr Chancen für alle gibt, weniger Korruption und mehr Gleichheit”, sagt Politologe Orosteguí. “Moralisch schwierig wird es, wenn es um die Form geht, wie wir das erreichen wollen.”
Reformen, bedingungsloses Grundeinkommen, der Umsturz des Präsidenten – all dies mehr oder wenige ernst gemeinte Vorschläge, die zur Verbesserung der Lage beitragen sollen. Doch der Streit um Inhalte wird immer wieder überlagert vom Vorwurf der Ideologie. Veteran León etwa ist davon überzeugt, dass die Streikenden entweder bezahlt werden, um auf die Straße zu gehen, oder ihre Ideen von Ideologen kopieren. González wird klarer: Ihm zufolge steckt der linke Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro hinter dem Streik und der Gewalt. Eine Idee, die die Wochenzeitschrift Semana schon vor einigen Wochen auf ihren Titel druckte und Anhänger des rechtsgerichteten Expräsidenten Álvaro Uribe unter dem Hashtag #Petrobastaya (zu deutsch: “Petro, genug jetzt!”) verbreiten.
Obwohl die Fronten zwischen Streikenden und Streikgegnern in vielen Fällen vermutlich nicht so verhärtet sind, wie es zunächst scheint, befeuern ideologische Anschuldigungen die ohnehin schon hitzige Situation. Mit Hinblick auf die Wahlen im nächsten Jahr ist das keine Überraschung. Doch vor dem Hintergrund von mindestens 60 Menschen, die während der Proteste starben, ist es brandgefährlich.