Man soll mit Überhöhungen vorsichtig sein, aber Emanuel Buchmann kann Geschichte schreiben. 103-mal ist der Giro d’Italia bisher ausgefahren worden, was für eine Tradition, noch nie stand ein Deutscher am Ende auf dem Podium. Buchmann will das bei der 104. Auflage ab Samstag ändern, und es gibt genug Leute, die dem 28-Jährigen vom deutschen Team Bora-hansgrohe das auch zutrauen. Er traut es sich auch selbst zu.
»Das Ziel ist das Podium«, ist Buchmanns eindeutige Ansage, es ist sein allererster Giro, aber der Deutsche fühlt sich nach seinem verkorksten Jahr 2020 stark genug, gleich bei seiner persönlichen Premiere in Italien aufzutrumpfen. Zwar warten zu Beginn und am Ende zwei von ihm nicht so geliebte Einzelzeitfahren, dazwischen gibt es jedoch zahlreiche knackige Bergetappen hin zum Monte Zolocan oder hoch auf den Pordoi-Pass, dort, wo die Tifosi ihrem Rad-Idol Fausto Coppi ein Denkmal errichtet haben. Das Profil der Rundfahrt über die 3479 Kilometer von Turin längs und quer über den Stiefel und dann zurück in den Norden nach Mailand kommt dem Deutschen entgegen.
Dafür verzichtet Buchmann auf seine geliebte Tour de France, die Rundfahrt, bei der er vor zwei Jahren so gewaltig auftrumpfte und am Ende als Vierter nur ganz knapp das Podest verfehlte. Die Frankreich-Schleife hat ihm aber auch eines seiner bittersten Erlebnisse der Sportkarriere beschert. Im Vorjahr fuhr er, mit größten Erwartungen gestartet und dann durch Stürze und Verletzungen geschlagen, den Besten hinterher und wurde nur 28. im Klassement. Es ist die Tour de Leiden, das weiß Buchmann jetzt auch.
»Die besten Jahre noch vor sich«
Körperlich ist Buchmann jetzt wieder auf Stand, die sportlichen Ergebnisse in der Vorbereitung lassen allerdings noch zu wünschen übrige. Ein 13. Platz bei der Baskenland-Rundfahrt, das ist nicht die allerbeste Referenz, um als Favorit zum Giro anzureisen. Aber der Fahrer und sein Teamchef Ralph Denk machen sich deswegen zumindest nach außen keine großen Sorgen. Denk setzt auf Buchmann als Klassement-Fahrer, nicht nur in den nächsten drei Wochen bis zum 30. Mai, dem Zielpunkt in Mailand, sondern auch perspektivisch. Erst vor Kurzem wurde der Vertrag zwischen Buchmann und Bora-hansgrohe bis 2024 verlängert, Buchmann habe »seine besten Jahre noch vor sich«, sagt Denk.
Wer mit 28 seine besten Jahre noch vor sich hat, hat sie mit 21 erst recht noch nicht erlebt. Remco Evenepoel, der junge Belgier, das Supertalent im internationalen Radsport, wird darauf pochen, dass 2021 nur besser werden kann als das vergangene Jahr. Buchmann wird über seine Stürze bei der Tour geflucht haben, gegen das, was Evenepoel erlebte, waren es fast Kinkerlitzchen. Der 21-Jährige, den manche in seiner Heimat schon vorzeitig auf eine Stufe mit Eddy Merckx gehoben haben, stürzte im Vorjahr bei der Lombardei-Rundfahrt von einer Brücke in die Tiefe. Er brach sich die Hüfte, und wer diesen Sturz gesehen hat, möchte fast sagen: Er brach sich nur die Hüfte.
Neun Monate später wagt sich Evenepoel nach Italien zurück, und ob er schon wieder bereit ist, um den Gesamtsieg mitzufahren, wird eine der spannenden Fragen dieses Giro werden. Überhaupt: die Stürze. Sie waren das große Thema des Vorjahres, man denke nur an die fürchterliche Karambolage im Zielsprint, als der Niederländer Fabio Jakobsen bei der Polenrundfahrt lebensgefährliche Verletzungen erlitt – weil sein Landsmann Dylan Groenewegen ihn rücksichtslos Richtung Bande weggecheckt hatte.
Sagan sprintet wieder um Etappensiege
Jakobsen gab zuletzt in der Türkei sein Comeback, Groenewegen dagegen startet beim Giro – auf ihn werden viele ein besonders kritisches Auge haben. Wenn es zu den Sprintankünften kommt. Dann, wenn es wieder Ellbogen an Ellbogen geht und auch Bora-Sprinter Peter Sagan um die Etappensiege mitkämpfen will. Der Slowake Sagan, der zweite Trumpf im Rennstall von Ralph Denk, ist mittlerweile 31, ist aber immer noch in der Lage, all seine Explosivität in die letzten Meter vorm Zielstrich einzubringen. Dann wird auch Buchmann mithelfen, ihn in Position zu fahren, so wie Sagan versuchen wird, den Deutschen am Berg so weit wie möglich zu unterstützen. Nur so funktionieren Rundfahrten.
Rundfahrten funktionieren normalerweise auch nur, wenn Abertausende an den Straßen und den Passwegen stehen und ihre Lieblinge den Berg hinauf schreien. Das wird es im zweiten Giro-Coronajahr wieder nicht geben. Italien feiert 160 Jahre Vereinigung, es wird eine Feier light werden mit Abstands- und Sicherheitsvorkehrungen. Der Volksheld von einst, Giuseppe Garibaldi, und der Volksheld von heute, Vincenzo Nibali, das wäre die perfekte Kombination aus Sicht der italienischen Fans. Aber Nibali, der zweifache Giro-Triumphator, geht mit einem gerade verheilten Handgelenksbruch an den Start. Keine so guten Aussichten für den 36-Jährigen.
Buchmann, Evenepoel, Nibali – drei von bestimmt zehn Namen, die um den Gesamtsieg beim Giro kreisen. Der Tour-Sieger von 2019, Egan Bernal, will sein Fiasko bei der Tour de France im Vorjahr vergessen machen, Nibalis Landsmann Filippo Ganna möchte zeigen, dass sein bravouröser Auftritt beim Giro im Vorjahr keine Ausnahme war. Dann gibt es die Routiniers Mikel Landa und Romain Bardet und den Jungspund Joao Almeida aus Portugal, eine der Giro-Entdeckungen des Vorjahres. Es ist das ewige Los des Giro, das er im Schatten der Tour de France steht. Aber es ist auch wahr, dass der Ausgang der Italienschleife meistens weit unausrechenbarer, spannender ist als das Großunternehmen Tour, bei dem die Topteams am liebsten nichts dem Zufall überlassen würden.
Einen neuen Sieger wird es in jedem Fall geben. Titelverteidiger und Sensationssieger Tao Geoghegan Hart verzichtet 2021 auf den Giro-Start. Der Brite konzentriert sich auf die Tour de France.