Das Aus in der Champions League war einige Minuten alt, da stand Jürgen Klopp zum TV-Interview bereit. Vor dem Spiel habe er gefordert, Liverpool müsse wieder wie Liverpool spielen, erinnerte der Journalist und fragte, ob er die Forderung als erfüllt betrachte. Klopp lachte. Nicht sein inbrünstiges Klopp-Lachen. Dieses kam leiser daher. »Ein bisschen gehört das dieses Jahr zu uns«, sagte er: »Wir bringen es nicht zu Ende.«
Klopp und seine Reds hatten zuvor 90 Minuten lang versucht, gegen Real Madrid einen dieser Champions-League-Abende zu erschaffen, an dem sich die eine Mannschaft aufputscht und ihr Glaube ans Weiterkommen im selben Maße steigt wie beim Gegner der Zweifel. So wie Liverpool es vor zwei Jahren vollbracht hatte, beim 4:0 über Barcelona. Diesmal hätte es nach dem 1:3 im Viertelfinal-Hinspiel in Madrid einen 2:0-Erfolg gebraucht. Doch die Partie endete torlos.
Liverpool begann zumindest, wie Liverpool so ein Spiel beginnen musste: mit höchster Intensität. Nach kaum zwei Minuten kam Mohamed Salah frei vorm Madrider Tor zum Abschluss, vor sich nur Keeper Thibaut Courtois, doch Salah platzierte den Ball nicht gut. Liverpools erste Chance sollte die größte bleiben.
Das Aus in der Champions League bedeutet, dass Liverpool die Saison ohne einen Titel beenden wird. Das allein wäre zu verkraften. Der Klub droht allerdings, die Teilnahme an der Königsklasse zu verpassen. In der Premier League steht Liverpool auf Rang sechs, der Rückstand auf den vierten Rang, einen Champions-League-Platz, beträgt acht Spieltage vor Schluss drei Punkte. Der auf Platz eins sogar 22.
Einen ähnlichen Absturz hat Klopp schon beim BVB erlebt
Ob der Klub eine Katastrophensaison ohne Qualifikation für die Champions League abwenden kann, werden die kommenden Wochen zeigen. Fast noch wichtiger wird der Sommer, wenn Trainer und Klubverantwortliche der Frage nachgehen, wie es angehen kann, dass eine Mannschaft, die im Vorjahr 99 Punkte geholt hat, derart einbricht. Und welche Schlüsse sie daraus ziehen.
Die Situation mag ungewöhnlich sein, aber Klopp hat so etwas Ähnliches schon einmal erlebt. 2014/2015 stürzte er mit Borussia Dortmund in der Tabelle sogar noch heftiger ab. Nach vier Spielzeiten, die der BVB mit Klopp als Meister oder Vize abgeschlossen hatte, überwinterte der Klub auf einem Abstiegsplatz.
Die Zutaten für den Zusammenbruch damals waren Verletzungen von Schlüsselspielern, eine unwahrscheinlich schlechte Chancenverwertung sowie die Erkenntnis, dass ein Großteil der Bundesliga sich auf Klopps Taktik eingestellt hatte.
Manches davon findet sich in den derzeitigen Turbulenzen wieder. Viele zentrale Spieler fehlen Klopp seit Monaten, allen voran Abwehrchef Virgil van Dijk, dazu dessen Vertreter Joel Matip und Joe Gomez sowie Kapitän Jordan Henderson – das ist in etwa, als würden dem FC Bayern zeitgleich David Alaba, Niklas Süle, Jérôme Boateng und Joshua Kimmich fehlen.
Auch das mit den Chancen trifft auf Liverpools Saison zu. Sadio Mané schießt viel weniger Tore als in den Vorjahren und doch doppelt so viele wie der glücklose Roberto Firmino, dabei fehlt es nicht an Gelegenheiten.
Einen entscheidenden Unterschied zur BVB-Krise 2015 gibt es aber: Entschlüsselt ist Klopp diesmal nicht. Das Problem ist weniger, dass die Gegner wissen, wie man gegen Liverpool verteidigen muss, das wussten sie auch bereits in den Vorjahren. Das Problem ist, dass Liverpool seinen Plan nicht mehr so umsetzt wie in den vergangenen Saisons.
Einerseits hängt auch das mit den Ausfällen in der Defensive um Virgil zusammen. Statt des vielleicht besten Abwehrspielers der Welt und seinen starken Partnern verteidigen nun meist Nat Phillips und Ozan Kabak, der eine hatte vergangene Saison beim VfB Stuttgart in der zweiten Liga gespielt, der andere kam im Januar vom FC Schalke.
Aber erklärt das Fehlen der Schlüsselspieler in Abwehr und Mittelfeld, weshalb die Stürmer ihre Chancen vergeben? Wieso das Team nach 68 ungeschlagenen Heimspielen plötzlich sechsmal nacheinander in Anfield verlor?
Klopp selbst nennt das Fehlen der Fans als Grund
Wenn Klopp selbst danach gefragt wird, spricht er über die fehlenden Fans. Seine Mannschaft vermisse die Atmosphäre, das sei offensichtlich. Aber diese Erklärung scheint in einer Zeit, in der alle Teams ohne Heimzuschauer auskommen müssen, etwas zu einfach. Wer sich Liverpools Spiele anschaut, dem fällt tatsächlich auf, dass etwas fehlt: die Fans, aber vor allem der Punch, der die Mannschaft eigentlich auszeichnet.
In manchen Spielen wirkt die Elf, als hätte man sie in den Energiesparmodus versetzt. Im Hinspiel in Madrid etwa durfte Toni Kroos im Real-Mittelfeld einen langen Ball nach dem anderen schlagen, er bereitete so die beiden ersten Madrider Tore vor. Ein Spielmacher, der im Zentrum ungestört Bälle verteilt, ist mit das Letzte, was eine Klopp-Mannschaft gestattet. Normalerweise.
Im Rückspiel konnte man die Intensität zumindest wieder spüren. Aber es scheint, als gelänge das der Mannschaft nur noch in einigen Spielen, weniger noch: nur in einigen Spielphasen.
Seit Klopp in Liverpool ist, hat er Euphorie im Klubumfeld entfacht, die Mannschaft erst ins Endspiel der Champions League geführt, dann zum Titel und schließlich, in der vergangenen Saison, zur ersten Meisterschaft nach 30 Jahren. Das hieß aber auch, dass das Team erstmals kein natürliches Ziel mehr vor Augen hatte. Es ging nicht mehr darum, etwas zu erobern, sondern darum, das Eroberte zu verteidigen. Von Klopp ist die Aussage überliefert, er wollte nie der Beste sein, sondern eine Mannschaft trainieren, die in der Lage ist, die Besten zu schlagen.
Wie aber kann ein Verein noch Underdog sein, wenn er alles gewonnen hat?
Vielleicht haben die vergangenen Titel, nach denen sich der Klub so lange gesehnt hatte, ihren Teil zur aktuellen Krise beigetragen. Vielleicht fehlen bei einigen Spielern ein paar Prozent. Hinzu kommen Verletzungen und die hohe Belastung durch den Coronaspielplan.
Wenn das so ist, führt das zu einer anderen Frage: Hätte Liverpool das nicht kommen sehen müssen?
Eigentlich gelten die Reds als besonders fortschrittlicher Klub, der dafür bekannt ist, wichtige Entscheidungen besonders analytisch anzugehen. Welche Spieler verpflichtet werden zum Beispiel. Zuletzt scheint man aber strategische Fehler begangen zu haben.
»Wir müssen jetzt weitermachen. Wir müssen weiterkämpfen«
Für die unter Klopp wichtigen Außenverteidigerpositionen finden sich im Kader keine starken Alternativen für die jeweiligen Stammspieler. Das Abwehrzentrum ist dünn besetzt. Zahlreiche wichtige Spieler gehen auf die 30 zu oder haben sie erreicht. Dass diese Fußballer allmählich älter werden, vielleicht auch ein Stück zufriedener, scheint Liverpool nicht als potenzielles Problem erkannt zu haben.
Der Klub wirkt zögerlich auf dem Transfermarkt, dabei war gerade das kluge Einkaufen über die vergangenen Jahre hinweg ein großes Plus gewesen. Das könnte jetzt teuer werden. Die Champions League zu verpassen und die damit verbundenen Einnahmen, wäre selbst für einen umsatzstarken Klub wie Liverpool nicht ohne Weiteres wegzustecken, es geht um einen größeren achtstelligen Betrag.
Aber so weit ist es noch nicht. »Wir müssen jetzt weitermachen«, sagte Klopp am Mittwochabend mit Blick auf die kommenden Wochen: »Wir müssen weiterkämpfen.«
In Dortmund hat er sein Team damals vom vorletzten auf den siebten Platz geführt. Einen Neuaufbau nahm er danach nicht vor, er ging nach Liverpool. Der BVB war danach nie wieder so erfolgreich wie unter Klopp.