Kultur

Dirigent Vitali Alekseenok über die Proteste in Belarus

Herbst 2020: Der erst 29-jährige Dirigent Vitali Alekseenok und die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch sitzen an einem Tisch in Alexijewitschs Berliner Wohnung. Sie sprechen über Literatur und das gemeinsame Heimatland. Belarus gilt als die letzte Diktatur Europas, dort herrscht seit 1994 der Autokrat Alexander Lukaschenko. Erst im August hat er seine Macht mithilfe mutmaßlich gefälschter Wahlen ausgebaut. Doch diesmal lief es anders als gewohnt: Hunderttausende gingen auf die Straße, um friedlich zu protestieren. Das Regime schlug die Proteste brutal nieder. Die Europäische Union erkannte die Wahl nicht an und verhängte Sanktionen gegen das belarussische Regime.

Tage, die sein Leben veränderten

Als Alexijewitsch Minsk im September 2020 verließ, war sie eine der letzten Vertreterinnen aus der Oppositionsführung, die in Belarus noch nicht verhaftet war. Vitali Alekseenok ist in oppositionellen Kreisen nicht so bekannt. Im Sommer hatte der musikalische Leiter des Abaco-Orchesters der Universität München in Deutschland Proteste gegen Lukaschenko organisiert, im August fuhr er in seine Heimat. Die 1,5 Monate, die Alekseenok in Belarus verbrachte, sollten sein Leben verändern. Darüber schrieb er ein Buch.

Wie Tausende seiner Landsleute war Vitali in die Heimat zurückgekehrt, um Wahlmanipulationen zu verhindern und die Protestbewegung zu unterstützen. Sein Buch, das aus dieser Reise entstand, liest sich wie ein Reisebericht. Es ist gespickt mit nüchternen Kriegseindrücken. Es verbindet Hintergrundinformationen über Land und Leute zu einer Art Belarus-ABC.

Reise in Europas letzte Diktatur

Der junge Dirigent Vitali Alekseenok stammt aus dem Städtchen Wilejka nordwestlich der Hauptstadt Minsk. Er wächst in einem halbkriminellen Milieu auf, doch dank seines charismatischen Musiklehrers landet er nicht im Gefängnis, sondern kommt nach Minsk, um Musik zu studieren. Später schließt er seine Ausbildung in Sankt Petersburg ab, bevor das junge Talent eine Einladung nach Deutschland erreicht.

“Immer wenn ich in Deutschland einen Mini-Bus sehe, zucke ich zusammen und muss zuerst schauen, ob die Nummernschilder nicht verdeckt sind”, sagt Alekseenok. In solchen Mini-Bussen sitzen häufig maskierte Polizisten bei Massenverhaftungen – eine gängige Praxis in Belarus: Brutal, blitzschnell und demonstrativ abschreckend geschähen Aktionen am Rande der Demonstrationen, berichtet der Dirigent.

Sehnsucht nach Gerechtigkeit

Viele Belarussen würden es nicht ohne Bitterkeit sehen, dass der Westen kaum etwas gegen die Lage in Belarus ausrichten könne, sagt Alekseenok. “Dennoch ist es wichtig, dass die Welt über uns Bescheid weiß.” Er teile die Sehnsucht seiner Landsleute nach Gerechtigkeit und Akzeptanz, sagt der Dirigent, und danach, nicht allein sein zu müssen. “Das brauchen die Belarussen vom Westen – mehr als wirtschaftliche Hilfe.”

Das Buch, das mit dem Titel “Die weißen Tage von Minsk”im S. Fischer-Verlag erschien, schickte der Dirigent an die Nobelpreisträgerin, gespannt auf ihr Urteil. Am Küchentisch in Berlin würdigt Swetlana Alexijewitsch die Publikation nun als “wichtiges Zeitdokument” und lobt das Sprachgefühl des Autors. Vitali ist erleichtert. Als ihr Gespräch auf die Zukunft von Belarus kommt, sind jedoch beide besorgt. Sie glauben nicht, dass die größte politische und humanitäre Krise in der Geschichte des Landes ein baldiges Happy-End findet.

QUELLE

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