Wenn ein einziges Spiel eine Karriere beschreiben kann, dann kam der jüngste Auftritt von Julian Draxler dem ziemlich nahe. Im Ligagipfel zwischen Paris St. Germain und Lille am Samstag wurde der deutsche Nationalspieler in der 64. Minute beim Stand von 0:1 eingewechselt. So wie er fast immer eingewechselt wird. Draxler, 27, erwies sich sofort als Belebung: den Kopf oben, den Körper durchgestreckt, Ruhe und Klarheit am Ball, eine perfekte Technik. Aber mit jeder Minute machte er weniger her und am Ende keinen Unterschied. 0:1, Draxler ging halt so mit unter.
Irgendwie etwas bewegt, aber irgendwie auch nicht. Irgendwie dabei, aber nicht unersetzlich. Irgendwie verläuft diese Karriere von außen betrachtet nicht so, wie sie mal verlaufen sollte.
Julian Draxler, das war der Spieler, um den Matthias Sammer, damals DFB-Sportdirektor, einen bizarren Streit mit Schalke-Trainer Felix Magath über Pro und Contra eines frühzeitigen Schulabbruchs anzettelte: Weil er schon mit 17 so gut war. Draxler lachte die Debatte einfach weg, wirbelte zusammen mit dem doppelt so alten Raúl und galt als Schalkes Antwort auf Dortmunds Mario Götze. Mindestens.
Götze spielt heute beim PSV Eindhoven, fernab der Champions League. Draxler tritt mit dem Vorjahresfinalisten Paris am Abend zum Viertelfinale beim FC Bayern München an (21 Uhr/Liveticker bei SPIEGEL.de; TV: Sky). Schon dieser Vergleich zeigt, dass alles eine Frage der Perspektive ist. Aber zu der gehört auch, dass er jüngst nicht mehr zur Nationalmannschaft nominiert wurde. Joachim Löw, der immer als sein Förderer galt, scheint den Kapitän und »Goldenen Ball«-Gewinner in Deutschlands letztem besseren Fußball-Sommer – dem Confed-Cup 2017 – abgeschrieben zu haben. »Mit der Entwicklung nicht so zufrieden«, so drückte es DFB-Direktor Oliver Bierhoff aus – übrigens ebenfalls ein langjähriger Förderer Draxlers.
Nationaltrainer verlangen von ihren Profis, dass sie Stammspieler im Klub sind. Draxler hat da schlechte Argumente: Er ist es seit Jahren nicht. Warum nicht? Und warum rebellierte er nie? Warum suchte er nie den Vereinswechsel, dem Paris bisweilen durchaus nicht abgeneigt war?
Es gibt wenige Spieler, die so viel mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben, und in Frankreich kennt die auch keiner besser als in Deutschland. »Vermurkst« und »vergeudet« nannte »L’Équipe« die Liaison mit dem PSG. Bixente Lizarazu, Weltmeister von 1998, äußerte sich dieser Tage gegenüber dem »Kicker« noch drastischer. Draxler fehle »Kampfgeist und Temperament«, er sei »manchmal ein Geist«.
Mehr Fußballer für den Raum als für den Bierdeckel
Ein gewisses Phlegma hat dieser reflektierte und redegewandte Profi auf dem Platz tatsächlich oft ausgestrahlt. Sicher ist er mehr ein Fußballer für den Raum als einer, der auf dem Bierdeckel tanzt, und nicht alle Partien produzieren Situationen, wie sie ihm besonders liegen. Aber das erklärt nicht alles. Auch Pech tut das nicht, wobei es das schon gab.
Im April 2016 zeigte er beim 2:0 des VfL Wolfsburg im Viertelfinal-Hinspiel gegen Real Madrid ein brillantes Match, das vielleicht wichtigste seiner Karriere. Eine Woche später im Rückspiel verletzte er sich früh, ein trostloses 0:3 bedeutete das Aus.
Von Schalke nach Wolfsburg, von Wolfsburg nach Paris: aus heutiger Sicht ist es leicht, diese unkonventionellen und wegen der Begleitumstände umstrittenen Wechsel als Fehler zu sehen. Aber als Draxler im Januar 2017 nach Paris kam, landete er sofort in der Stammelf. Bald gehörte er zu den Leistungsträgern der besten Partie, die das Scheichprojekt bis heute geliefert hat: einem 4:0 im Achtelfinale gegen den FC Barcelona. Doch wieder gab es ein Rückspiel, und zwar nicht irgendeines. Beim 1:6 verschworen sich alle Fußball-Götter gegen den PSG. Der Spielverlauf war nicht so klar wie das Ergebnis, aber das brauchte Katar niemand erzählen. Der verwundete Emir kaufte Neymar und Mbappé, zwei Stars für die Angriffslinie, in der für Draxler nun kein Platz mehr war.
Es ist schwer, die folgenden Jahre anders zu erzählen als eine Geschichte der Agonie. Zunächst blieb er noch so etwas wie die Nummer zwölf, doch seine Aktie sank weiter, dazu kamen Blessuren. Auch wenn er in der Liga stets auf eine gewisse Anzahl von Einsätzen kam, war er nie eine feste Größe im Team.
Erst Unai Emery, dann Thomas Tuchel begannen, Draxler tiefer im zentralen Mittelfeld einzusetzen. In der Ligue 1 reichte Draxler sein technisches Vermögen, um als Achter eine gute Rolle zu spielen. In den wichtigen Partien in der Champions League aber starteten andere in der Schaltzentrale. Draxlers Startelfeinsatz beim jüngsten Achtelfinalrückspiel gegen Barcelona war der Erste im Europapokal seit zwei Jahren.
Aber vielleicht ist es auch hier eine Frage der Perspektive: Mit dem Engagement in Paris hat Draxler finanziell ausgesorgt. Er spielt in einer der glamourösesten Mannschaften der Welt und er nutzt die Zeit in Frankreich dazu, sich persönlich zu entwickeln. Er hat ein Management-Fernstudium abgeschlossen, plant nach seiner Karriere eine Laufbahn als Unternehmer und er spricht mehrere Sprachen (derzeit lernt er Spanisch). Draxler, so heißt es aus seinem Umfeld, bewertet seine Karriere unter Ausschluss dessen, was die öffentliche Meinung von ihm ist.
Immerhin setzt Trainer Mauricio Pochettino neuerdings wieder mehr auf ihn. Dem Argentinier gefällt Ähnliches an Draxler wie Löw: die Vielseitigkeit, die saubere Technik bei hohem Tempo, die ihn so für das moderne Umschaltspiel eignet. Pochettino soll maßgeblich das Bemühen unterstützen, den im Sommer auslaufenden Vertrag des Deutschen zu verlängern. Dazu raten auch pragmatische Erwägungen: In Corona-Zeiten ohne großes Einkaufsbudget schenkt man ungern Spieler her wie es den Franzosen vorigen Sommer mit Thiago Silva, Edinson Cavani oder Thomas Meunier widerfuhr. Der PSG, heißt es, bietet Draxler jedoch nur krisenangepasste Gehaltsbezüge.
Sonderlich wahrscheinlich aber ist ein neuerlicher Verbleib Draxlers in Paris nicht. Aktuell laufen Verhandlungen mit anderen Klubs. Es sollen namhafte dabei sein, hört man. Mit 27 ist Draxler immer noch so sehr ein Mann der Zukunft wie einer der Vergangenheit. In der kommt er unter anderem auf eine Weltmeisterschaft, drei französische Ligen und ein Champions-League-Finale. Aber bis auf den Confed-Cup und einen DFB-Pokal mit Schalke als 17-jähriger Finaltorschütze hat er das alles eher als Schattenspieler erreicht. Einer, der irgendwie auch dabei war.
Jetzt steht er vor der Entscheidung, wie er am besten ins Licht tritt.