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Der Libanon im Überlebensmodus

Ihr Haar ist noch nass. Gerade eben hatte Cosette Youseff noch eine Dusche genommen, um zu entspannen. Doch sie wirkt erschöpft und müde. “Seit der Explosion im Hafen von Beirut im August habe ich immer Angst, dass etwas Schlimmes passiert während ich unter der Dusche stehe und ich womöglich nackt in der Wohnung gefunden werde. Ich weiß, das klingt vielleicht komisch. Aber das Trauma sitzt tief”, sagt sie in die Kamera.

Sie hatte Glück, dass sie nicht ums Leben gekommen ist bei der Explosion von 2700 Tonnen Ammoniumnitrat, die Teile von Beirut zerstörte, ihre Wohnung erschütterte und ihr Büro dem Erboden gleich machte.

Noch für sieben Monate finanzielle Reserven

Cosette ist 31 Jahre alt. Sie arbeitet als Beraterin für Inneneinrichtung in einem kleinen Unternehmen. Mittlerweile arbeiten sie mit einer Firma in Frankreich zusammen – und ein paar reiche Libanesen im Land bestellen Möbel. Ein Großteil der Bevölkerung kann sich so einen Luxus aber nicht mehr leisten. “Ich kaufe nur das Nötigste”, sagt sie. Sie arbeitet auf Kommission – ein Grundgehalt ist nicht drin. Ihre finanziellen Reserven reichen noch für sieben Monate, schätzt Cosette.

“Vielleicht hätten wir das alles früher sehen können”, sagt sie. Aber so recht habe keiner glauben wollen, dass es soweit kommt.

Ihre Ängste um ihre Zukunft, die ihrer Familie und des gesamten Landes lassen sie nicht los. Dabei fürchtet sich Cosette und viele andere derzeit weniger vor der dritten COVID-Welle, die das Land erreicht hat. Noch mehr Sorge bereitet ihnen der Wertverlust der libanesischen Währung. Zu Beginn der Woche gab das libanesische Pfund fast stündlich nach, bis Devisenhändler schließlich 15.000 Pfund für einen Dollar verlangten – zehn Mal so viel wie bis Oktober 2019 eigentlich üblich war. Mittlerweile ist der Wechselkurs wieder etwas gesunken.

Kaum noch Devisen in der Zentralbank

Auch der Treibstoff könnte in wenigen Wochen zur Neige gehen. Der einzige Flughafen des Landes war neulich schon dunkel: Es gab keinen Strom. Die Übergangsregierung hat zwar angekündigt, Menschen in Not zu unterstützen, doch Subventionen für Gas und bestimmte Lebensmittel werden gekappt. Wie viele Devisen die Zentralbank überhaupt noch vorhält, weiß kaum jemand genau. Nach Informationen der Agentur Bloomberg liegen die Reserven derzeit bei gut 13 Milliarden Dollar. Ein Jahr zuvor sollen es noch doppelt so viel gewesen sein.

Nach Angaben der Weltbank lebt fast die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, über 20 Prozent leben sogar in großer Armut. Der Mindestlohn entspricht heute nur noch dem Gegenwert von 50 Dollar.

“Gestern habe ich eine Bekannte getroffen, die mit ihrem Mindestlohn ihrer kleinen Tochter nicht mal einen Kuchen zum Geburtstag kaufen kann”, sagt Cosette. “Und kurz danach musste ich diese reichen Libanesen treffen, die mir fast 20.000 US-Dollar in Bar für ihre Möbel aus dem Ausland auf den Tisch gelegt haben”, erzählt die Einrichtungsberaterin angewidert. Diese zwei Extreme gebe es im Libanon.

Es falle ihr schwer, für diese Menschen zu arbeiten, sagt sie. Sie seien Teil der Elite, die für die Situation im Land verantwortlich sei. “Ich könnte derzeit auch keinen neuen Job finden, und mein Chef ist sehr fair.” Die Arbeitslosigkeit ist in die Höhe geschnellt.

Nicht genügend Lebensmittel im Supermarkt

Jahrelanges Wirtschaften in die eigene Tasche und Korruption haben das Land dahin gebracht, wo es jetzt ist – dazu eine Klientel, die lange davon profitiert und es gestützt hat. Die Folgen müssen diejenigen ausbaden, die keinen Reichtum angehäuft oder Geld im Ausland haben.

“Die Rente meines Vaters beträgt derzeit 200 Dollar pro Monat. Ist das fair? Meine Eltern bewirtschaften zum Glück schon seit Jahrzehnten ein kleines Stück Land nahe der syrischen Grenze und versorgen sich überwiegend selbst mit Lebensmitteln, indem sie sie trocknen oder einlegen.” Auch sie lege mittlerweile Lebensmittel ein, damit sie einen Vorrat hat, der nicht auf Strom für den Kühlschrank angewiesen ist.

Viele Bürger würden das mittlerweile machen und ihre Produkte dann in den Sozialen Netzwerken anbieten – auch, um sich gegenseitig zu unterstützen. “Das habe ich früher nie gemacht, da bin ich einfach in den Supermarkt und habe mir gekauft, was ich brauchte.”

Doch die Supermärkte haben längst nicht mehr alles auf Vorrat – Windeln und Babynahrung zum Beispiel sind Mangelware. Tampons und Binden kosten je nach Marke fast 30 US-Dollar. Der Libanon muss fast alle Güter importieren – die Banken haben jahrzehntelang keine Anreize geschaffen, um eine lokale Geschäftstätigkeit zu unterstützen.

Zerrissen zwischen dem Wunsch zu gehen und zu bleiben

Viele Bürger versuchen teils panisch, ihre Nahrungsmittelvorräte aufzustocken bevor ihr Geld noch weniger wert ist. Auch Henry Farnjieh ist dazu übergegangen, seine Einkünfte in haltbare Lebensmittel zu investieren. Der 45-jährige Architekt lebt mit seiner Familie in der Bekaa-Ebene, etwa eine Stunde Autofahrt von Beirut entfernt. Es sei vielleicht widersprüchlich, sagt Henry, aber er habe sein Architektur-Büro erst kürzlich wiedereröffnet, nachdem er und seine Partner in Beirut schließen mussten. Gleichzeitig habe er aber auch ein Visum für sich und seine Familie nach Kanada beantragt.

So wie Henry geht es vielen Menschen im Libanon. Es ist die Sehnsucht nach Sicherheit und nach einem besseren Leben – “für meine Kinder”, sagt er. Gleichzeitig wollen viele ihre geliebte Heimat nicht aufgeben.

Die Sicherheitslage im Libanon ist angespannt. Es kommt zu Plünderungen, zu Auseinandersetzungen auf den Straßen, immer wieder werden Straßenblockaden errichtet. Nach Angaben des Leiters der Organisation Permanent Peace Movement, Fadi Abi Allam, seien mittlerweile über eine Millionen Kleinwaffen im Libanon im Umlauf.

Angespannte Sicherheitslage – kein Geld für Institutionen

Auch Innenminister Mohammad Fahmi beklagt einen Anstieg der Kriminalitätsrate und warnt davor, dass es soweit kommen kann, dass die Sicherheitskräfte einen Teil ihrer Tätigkeiten einstellen müssen. Denn nicht nur die Bürger kommen nicht mehr an ihre finanziellen Ersparnisse, auch Institutionen wissen nicht mehr, wie sie ihre Mitarbeiter bezahlen sollen.

“Das Problem ist, dass man sich immer fragt, wie geht es denn jetzt weiter? Dadurch steht man immer unter Strom”, sagt Mariam Younes, Leiterin des Beirut-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Schon früher habe man häufiger gedacht, die Lage sei schwierig, so Younes. Wegen der Explosion und der Ereignisse in den letzten Wochen sei jetzt aber ein qualitativer Unterschied spürbar. “Man merkt, es geht hier in eine Richtung, die unkontrollierbar wird.”

Es wurden weder Reformen eingeführt noch Verantwortliche für die Explosion juristisch zur Rechenschaft gezogen. “Dieses System hat so viel überlebt, inklusive der Explosion”, sagt Halim Shebaya, Geschäftsführer der Arab Association of Constitutional Law. “Dieses politische Regime fußt auf Straflosigkeit und versucht seine Verantwortung unter den Teppich zu kehren.”

Sieben Monate später noch keine Regierung

Kurz nach der Explosion war Ministerpräsident Hassan Diab zurückgetreten. Sein Nachfolger soll eigentlich Saad Hariri werden, er war zum Zeitpunkt der Anti-Regierungsproteste von Oktober 2019 im Amt – trat dann aber zurück. Sollten sich er und Staatspräsident Michel Aoun kommende Woche auf ein Kabinett einigen können, wäre wieder die Konstellation von Politikern an der Macht, gegen die die Libanesen 2019 protestiert haben.

Hariri will eine Regierung aus Technokraten. Die schiitische Hisbollah, die immer auch Teil der Regierung ist, lehnt das ab. Eine technokratische Regierung würde zwar mehr inhaltliche Kompetenz bedeuten, ihren Chefs wären sie aber dennoch loyal gegenüber. “Es reicht nicht aus, einen Politiker oder eine Partei zu entfernen”, sagt Shebaya. “Entweder wird das System vollständig verändert oder es wird einen Weg finden, sich mit denselben schlechten Angewohnheiten zu reproduzieren.”

Derzeit gebe es zwar noch Rückhalt für die alten politischen Akteure entlang konfessioneller Linien, sagt Mariam Younes. Auch wenn dieser inzwischen bröckeln würde. Viele fragten sich auch bei einem Blick in die Region, was bei einem Regimewechsel mit dem Libanon passieren würde. Es werde immer das Drohgespenst aufgebaut, es könne zu Krieg kommen. “Die Leute halten dann lieber an dem fest, was sie kennen”, sagt sie.

Rückhalt in der Bevölkerung

Drohgebärden baute auch Hisbollah-Chef, Hassan Nasrallah, in seiner gestrigen Rede an seine Anhänger, auf. Er machte diejenigen, die Straßen blockierten, für die Unruhen verantwortlich. Dies könnte das Land in einen Bürgerkrieg treiben, sagte er. Er verliere die Geduld und forderte die Armee auf, einzugreifen, wenn das darum ginge, Straßen zu öffnen.

Maryam Younes von der Rosa-Luxemburg-Stiftung sieht einen wachsenden Einfluss des Iran und Russlands im Libanon. Beide unterstützen die Hisbollah im Kampf in Syrien an der Seite von Machthaber Baschar al-Assad.

Realpolitisch könnte sie sich eine stärkere Rolle Europas und der USA im Libanon vorstellen. “Russland wird präsenter hier im Libanon – nicht übermäßig. Aber sie haben in der letzten Zeit in Statements dazu aufgerufen, dass sich alle Akteure an einen Tisch setzen sollen. Das machen Europa oder die USA mit der Hisbollah nicht.”

Cosette Youseff geht davon aus, dass dieselben alten Politiker ins Amt kommen werden, die für die Lage im Land verantwortlich sind. Sie macht sich in diesen Zeiten aber besonders Sorgen um ihre Eltern. “Was passiert, wenn sie etwas brauchen und ich nicht zu ihnen kann, weil es kein Benzin mehr gibt?”

QUELLE

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