Wissen

VARIABLE SONNENAKTIVITÄT: Mal Freund, mal Feind

Gegenüber der Erde verhält sich unsere Sonne wie ein großer Bruder, der sich um den Schutz seiner kleinen Schwester sorgt, ihr ab und zu aber auch einmal aus heiterem Himmel einen Kinnhaken versetzt. So geschehen in den Jahren 993, 1052 und 1279: Damals hat unser Tagesgestirn die Erde für kurze Zeit mit außergewöhnlich energiereichen Partikeln bombardiert. Was im Mittelalter allenfalls durch prächtige Polarlichter aufgefallen sein dürfte, würde der technisierten Gesellschaft unserer Tage mindestens ein blaues Auge verpassen.

Dies legt eine Anfang Januar in der Fachzeitschrift „Nature Geosciences“ veröffentlichte Studie nahe. Nicolas Brehm von der ETH Zürich und ein internationales Forscherteam hatten die Konzentration von radioaktivem Kohlenstoff-14 (C-14) in Baumringen aus der Zeit von 969 und 1933 untersucht. C-14, auch „Radiokarbon“ genannt, entsteht, wenn energiereiche Partikel der kosmischen Strahlung, vor allem Wasserstoff- und Heliumkerne, in der Atmosphäre mit Stickstoffatomen zusammenstoßen. Radiokarbon macht weniger als ein Prozent des gesamten Kohlenstoffs auf der Erde aus, wird aber bei der Photosynthese in die Zellulose lebender Pflanzen eingebaut. In toten Lebewesen verringert sich der C-14- Anteil wegen des radioaktiven Zerfalls nach einem genau bekannten Zerfallsgesetz. Auf diese Weise lässt sich das Alter historischer Artefakte bestimmen. Brehm und sein Team drehten das Prinzip nun um: Sie nutzten die C-14-Menge in alten Baumstämmen, deren Historie durch die Anzahl der Jahresringe bereits bekannt war, um die C-14-Konzentration in der Erdatmosphäre in den vergangenen 1000 Jahren zu rekonstruieren.

Dazu maßen sie nicht, wie früher üblich, die vom Radiokarbon ausgehende radioaktive Strahlung, sondern zählten die im Holz vorhandenen C-14-Atome mit einem Beschleuniger-Massenspektrometer direkt. Dieses Verfahren ist schneller und kommt mit wesentlich weniger Probenmaterial aus: Für eine Messung reichten millimeterfeine Bohrkerne, die man zum Beispiel aus in historischen Gebäuden verbauten Baumstämmen extrahiert hatte. Es ist zudem so genau, dass die Wissenschaftler erstmals die C-14-Schwankungen von einem Jahr auf das nächste präzise bestimmen konnten.

Die C-14-Konzentration folgte der Studie zufolge in den vergangenen 400 Jahren der ebenfalls variablen Sonnenaktivität. Astronomen überwachen diese seit Erfindung des Fernrohrs anhand der Zahl der Sonnenflecken und wissen deshalb, dass die Sonne etwa alle 11 Jahre besonders unruhig ist. In den entsprechenden Jahresringen fiel der C-14-Anteil erwartungsgemäß geringer aus: Je aktiver die Sonne, desto besser hält ihr Magnetfeld die energiereichen kosmischen Teilchen ab – wie der „große Bruder“ auf dem Schulhof. Dass sich dank der Baumringe das Auf und Ab der Sonne nun deutlich weiter zurückverfolgen lässt, wird Astrophysikern helfen, das variable Sonnenmagnetfeld besser zu verstehen.

Auch für die Frage, wie die Sonnenaktivität auf das Erdklima wirkt, dürfte dies hilfreich sein, meint Mads Faurschou Knudsen von der Aarhus-Universität in Dänemark in einem Begleitartikel: Zwar bewirke der solare 11-Jahres-Zykus maximale Schwankungen von nur 0,07 Grad in der globalen Temperatur und ist damit sicher nicht für den beobachteten Anstieg von 1,2 Grad im Laufe des vergangenen Jahrhunderts verantwortlich. Über die komplizierten Abläufe in der Erdatmosphäre könne er sich aber vielleicht regional auswirken.

In den Jahren 993, 1052 und 1279 stieg die C-14-Konzentration für jeweils wenige Tage oder Wochen sprunghaft an. Der Grund: solare Ausbrüche, die geladene Teilchen Richtung Erde schleudern. Astrophysiker beobachten diese regelmäßig, die meisten prallen am Erdmagnetfeld ab. Die aus den Baumringen rekonstruierten Ereignisse waren aber von einem Kaliber, das in der heutigen Zeit die Elektronik auf der Erde und an Bord von Satelliten empfindlich gestört hätte.

Bereits 2013 hatten japanische Wissenschaftler ähnliche C-14-Sprünge in den Jahren 774 und 993 gefunden. Den späteren der beiden konnten Brehm und sein Team nun bestätigen, mit den zwei zusätzlichen sind nun vier solare Megaausbrüche im Laufe von etwas über tausend Jahren bekannt. Dazu kommen schwächere, aber dennoch für elektronische Systeme potentiell verheerende Eruptionen, etwa das sogenannte Carrington-Ereignis von 1859: Der stärkste jemals direkt beobachtete Sonnenflare sorgte seinerzeit für Ausfälle in der Telegraphieübertragung und Polarlichter bis nach Florida und Hawaii – und war doch zu schwach, um einen C-14-Abdruck zu hinterlassen. Solare Kinnhaken – eine eher unterschätzte Bedrohung für die Technologiegesellschaft – scheinen also häufiger aufzutreten als bisher angenommen.

QUELLE

Related Articles

Back to top button