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Auch über Konsens lässt sich streiten

Wissenschaftliche Expertise ist nicht nur in Zeiten einer globalen Pandemie gefragt. Die Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, auf die sich politische Entscheidungen und deren öffentliche Beurteilung stützen können, kann nur begrenzt von der Wissenschaft selbst übernommen werden. Sie müssen vermittelt werden, und dies geschieht, wenn sie in den Massenmedien aufgegriffen und diskutiert werden. Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Massenmedien hat ihre eigenen Probleme: Nicht nur müssen komplizierte Sachverhalte vereinfacht werden, um ein breites Publikum zu erreichen, oft werden sie auch dramatisiert, damit sich überhaupt jemand dafür interessiert. Eine Warnung vor problematischen Entwicklungen wird zur Prophezeiung des Weltuntergangs, unterschiedliche Einschätzungen im Detail werden zu einem Streit der Gelehrten.

Die Selektionskriterien der Massenmedien entsprechen nicht jenen der Wissenschaft. Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse von den Massenmedien aufgegriffen und dargestellt werden, kann dies zu einem verfälschten öffentlichen Bild der Wissenschaft führen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie untersucht das Ausmaß eines solchen „media bias“ in Berichten mit Wissenschaftsbezug. Sie fragt insbesondere danach, ob und wie wissenschaftlicher Konsens in spezifischen Themenfeldern in der Medienberichterstattung thematisiert und abgebildet wird. Konsens, so könnte man erwarten, passt nicht gut ins Schema journalistischer Berichterstattung, er ist undramatisch, unpersönlich und damit: uninteressant. Für die Beurteilung von Sachfragen und als Entscheidungsgrundlage könnte er aber sehr wichtig sein.

Große Übereinstimmung bei bestimmten Themen

Auch wenn Konsens in der Wissenschaft niemals absolut und selten von Dauer ist, gibt es ihn. Die Studie nennt zehn Themen, in denen eine große Übereinstimmung festgestellt werden kann: von den wirtschaftlichen Folgen von Einwanderung über die Sicherheit von Impfungen und den Klimawandel bis zur Unabhängigkeit von Zentralbanken. Insgesamt 300.000 Berichte über diese Themen wurden sechs englischsprachigen Tageszeitungen, einer Nachrichtenagentur und den Transkripten von drei TV-Nachrichtensendern entnommen. Diese Datenmenge wurde mit Hilfe eines trainierten Algorithmus maschinell darauf untersucht, ob Expertenmeinungen überhaupt zitiert wurden. Eine Auswahl wurde im Anschluss manuell codiert und hinsichtlich der Frage ausgewertet, ob sie den Konsens der wissenschaftlichen Expertise zum Thema wiedergibt oder nicht.

Dass Konsens in den Massenmedien vermittelt wird, ist nicht nur deshalb unwahrscheinlich, weil Konflikt interessanter erscheint. Es gibt auch die Beobachtung, dass Medienberichte sich um eine „ausgewogene“ Berichterstattung bemühen. Das heißt dann aber, dass auch bei Themen, bei denen weitgehende Übereinstimmung herrscht, abweichende Positionen dargestellt werden. Es werden Rollen für Gegenexperten geschaffen, die mitunter erst mühsam gesucht werden müssen. Dies erweckt den Eindruck, es gebe mehr Dissens, als faktisch vorhanden ist.

Häufige Hinweise auf Konsens bei Impfthemen

Es gibt Unterschiede zwischen den Themen: So sind Hinweise auf Konsens mit über zehn Prozent relativ häufig bei Impfthemen, der Sicherheit genetisch veränderter Organismen und vor allem dem Klimawandel. Noch ernüchternder wird das Bild, wenn man danach fragt, ob sowohl der Konsens als auch eine konkrete, diesen unterstützende Expertise benannt werden: Dies ist nur noch in weniger als einem Prozent der Berichte der Fall. Immerhin: Bezüge sowohl auf Wissenschaft allgemein als auch auf anerkanntes Wissen haben seit den 1980er Jahren zugenommen.

Zu diesem Muster passt, dass Abweichungen vom wissenschaftlichen Konsens sich meist gar nicht auf konträre Meinungen aus der Wissenschaft berufen, sondern auf solche aus der Politik. Auf diese Weise gelingt es offenbar, die Seriosität der Wissenschaft mit der Streitlust der Politik so zu kombinieren, dass am Ende doch noch ein medientaugliches Produkt entsteht.

QUELLE

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